Dies Domini – 2. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Feierabend. Um 16 Uhr ist für viele fast Feierabend. Das Werk des Tages ist vollbracht. Es ist Zeit, zu entspannen und den Blick nach vorne, auf das Wesentliche, das Leben zu richten. In wievielen Arbeitsstätten mag dieser Kalauer hängen: Wir leben nicht, um zu arbeiten, wir arbeiten um zu leben. Eine Erinnerung an die verlorene Kunst der Muße, die die werktätigen Karriereplanerinnen und -planer von heute nicht mehr beherrschen. Selbst die viel beschworene Work-Live-Balance, dieser Euphemismus der modernen Selbstgestalter, ist eine Leistung, die der Mensch erbringen muss. Das Work und Live, Arbeit und Leben gehen nicht ineinander auf. Sie stehen sich gegenüber wie Gegensätze, die in ein Gleichgewicht gebracht werden muss. Verwundern kann das wenig, wenn die Karriere zum Inhalt der eigenen Existenz wird. Nur wer etwas wird, zählt in dieser Welt der Machbarkeit. Das Leben hingegen ist nichts, was man macht. Es ist. So wie der Mensch aus sich heraus etwas ist, ohne erst etwas leisten zu müssen. Die Würde des Menschen ist nichts, was durch Äußerlichkeiten hergestellt werden müsste. Der Mensch besitzt Würde aus sich heraus. Das Menschenbild der Gegenwart droht, diesen Wert zu vergessen. Heutzutage muss man etwas werden, Karriere machen. Der homo faber ist im Begriff den homo sapiens zu verdrängen.
Die ersten Folgen dieser Entwicklung sind bereits zu erkennen. Kürzlich twitterte eine 17jährige Schülerin, sie könne zwar Gedichte interpretieren, wisse aber nichts von Steuern, Miete und Versicherung. Dass man Letzteres nicht lernen kann, weil sich die Halbwertzeiten der Gültigkeiten von Regelungen zunehmend verringern, sei einmal beiseite gelassen. Auch die kalauerhafte Feststellung, die schon Johannes Pfeiffer – richtig, der mit den drei „f“ aus der Feuerzangenbowle – bewegt haben dürfte, was denn die Inhalte des Lehrplanes mit dem Leben zu tun hätten, ist nicht neu. Neu ist hingegen die Reflexhaftigkeit der Reaktion der Gesellschaft, die auf die 140 Zeichen lange, von der alterstypischen Einsichtsfähigkeit einer 17jährigen Anwärterin auf das Abitur gekennzeichneten Nachricht hysterisch die Frage nach dem Sinn schulischer Bildung stellt. Die „Zeit“ etwa stellt ihr einen Großteil ihres teuren redaktionellen Platzes zur Verfügung, die Rektorin der Schule, die das Mädchen besucht, sieht sich zu einer Klarstellung herausgefordert und sogar die nordrhein-westfälische Schulministerin mischt sich ein. Und all das, weil eine 17jährige nicht verstehen kann, was sie als 40jährige vielleicht verstehen wird: Wer die Komplexität von Gedichten verstehen kann, hat dem Umgang mit Sprache gelernt. Der Umgang mit der Sprache ist ein Schlüssel zur Welt – auch zu der Welt von Steuererklärungen, Miet- und Versicherungsverträgen. Die sind zwar selten lyrisch; die Kenntnis der Komplexität von Sprache ist aber hilfreich, den Sinn hinter dem Vertragstext zu erkennen.
Nicht die Twitter-Kurznachricht der Schülerin ist das Problem. Ähnliches hat man früher heimlich mit Kugelschreiber als Vermächtnis der eigenen schulischen Existenz auf den Tisch im Klassenzimmer gekritzelt, auf dem man in langweiligen Schulstunden die Leidensgeschichten derer studierte, die vor einem an demselben Tisch gesessen hatten. Damit hatte es sich dann auch. Heute hingegen geht eine Welle der Empörung durch eine Welt, deren Größe und Erhabenheit von der blauen Perle, die strahlend vor dem Hintergrund der Dunkelheit des Alls Staunen und Ehrfurcht bewirkt, zu der Kleinkariertheit eines digitalen Dorfes schrumpft, das bei jeder noch so banalen Kritik in eine hyperventilierende Schnappatmung gerät und sofort, stante pede – wie der früher humanistisch gebildete Mensch mit einer Wortwendung zu sagen pflegte, die man eher selten in Mietverträgen findet -, Konsequenzen fordert. Was soll aus einem Menschen werden, der Gedichte lernt, wo die Karriere doch eher eine Stärkung der Ellenbogen braucht. Was soll man mit den großen mathematischen Erkenntnissen eines Thales, Archimedes und Pythagoras, wenn heute doch eher Kenntnisse des Winkeladvokatismus von Nöten sind. Nein, der Mensch von heute braucht Anleitung für das Leben. Wo man sich früher einfach langweilte, braucht man heute einen Sozialpädagogen oder Psychologen, der der Langeweile Sinn verleiht.
Der Mensch ist nicht mehr, er hat etwas zu werden. Der Karriere ist alles unterzuordnen, alles ist auf die Karriere ausgerichtet. Dabei ist offenkundig, dass dieses Streben nichts mehr als eine Illusion ist. An der Spitze kann immer nur ein Mensch stehen. Die anderen werden mit ihren Karrierewünschen scheitern. Das Scheitern ist vorprogrammiert. Das Leben umsonst verlebt. Und wenn die Karriere an ihr Ziel gelangt ist, ist das Leben ziellos geworden. Burnout nennt man das dann neusprachlich, ausgebrannt – so, als wenn man jemals Feuer und Flamme für etwas war – aber wofür eigentlich?
Feierabend. Um 16 Uhr sollte wirklich langsam Feierabend sein. Des Tages notwendige Mühsal, um das für das Leben Notwendige zu erlangen, ist vollbracht: Genug zu essen, um satt zu werden, ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Ausruhen – viel braucht es nicht, um glücklich leben zu können. Und Familie und Freunde, mit denen man weinen und lachen kann, streiten und versöhnen, an denen man sich festhalten kann, wenn der Lebensturm einem allzu hart um die Nase bläst und denen man in anderen Zeiten Halt und Windschatten gibt. All das gab es früher spätestens um 16 Uhr, wenn Feierabend war und man das Leben, für das man hart gearbeitet hatte, endlich feierte. Das Leben war ein Fest, manchmal armselig, manchmal bedroht, aber gerade deshalb wertvoll.
Um 16 Uhr wurden keine Karrieren geplant. Um 16 Uhr begann man zu philosophieren und zu schwadronieren, über das Leben, die Politik und die Religion. Die Köpfe konnte man sich heißt reden, wo heute Work-Live-Balancer in ihrer zeitgemanagten digitalen Kalenderapp ein Zeitfenster für eine einsame Joggingrunde um den See reserviert haben – natürlich mit entsprechenden Sensoren am Körper, die Puls, Kalorienverbrauch und die zurückgelegte Strecke (selbstverständlich GPS-gesteuert) effizient erfassen. Man muss ja auch etwas für sich tun. Eine sportliche Erscheinung ist schließlich karrierefördernd …
Um 16 Uhr – das nannte man früher, als man noch nicht Sklave von Caesium- oder Strontium-gesteuerten Zeittaktungen war, die zehnte Stunde. Der natürliche Sonnenlauf bestimmte den Rhythmus. Um die zehnte Stunde war Zeit, zu kommen und zu sehen, zu reden und zu erkennen, zu gehen und zu erzählen, so, wie es im Evangelium vom 2. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B heißt:
Johannes stand am Jordan, wo er taufte, und zwei seiner Jünger standen bei ihm. Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes! Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus. Jesus aber wandte sich um, und als er sah, dass sie ihm folgten, fragte er sie: Was wollt ihr? Sie sagten zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister -, wo wohnst du? Er antwortete: Kommt und seht! Da gingen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde. (Johannes 1,35-39)
Wie lange werden die beiden wohl bei Jesus geblieben sein. Lange kann es nicht gewesen sein. Denn noch am selben Tag berichten sie anderen von dem, was sie gehört und worüber sie gesprochen haben. Andreas heißt einer von ihnen. Er wird als Bruder des Simon Petrus vorgestellt. Sein Bruder ist auch der erste, dem Andreas von der Begegnung berichtet:
Wir haben den Messias gefunden.
Messias heißt übersetzt: der Gesalbte – Christus. (Johannes 1,41)
Unwillkürlich stellt man sich die Szene vor, wie begeistert Andreas seinem Bruder das Erlebte berichtet. Die Begeisterung muss übergesprungen sein, den Simon lässt sich, so insinuiert der Text, sofort zu Jesus führen. Und
Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels – Petrus. (Johannes 1,42)
Johannes fährt im Johannesevangelium mit dem kleinen Wörtchen ἐπαύριον (sprich: epaúrion – morgen) fort, das direkt am Satzanfang steht. Viel Zeit ist also nicht vergangen zwischen 16 Uhr am Nachmittag und dem, was nun am morgen des folgendes Tages geschieht. Und geschlafen haben müssen sie auch noch diese rechtschaffenen Fischerbrüder vom See Genezareth, denn sie müssen früh heraus auf den See. Zwischen 16 Uhr und kurz nach dem Sonnenuntergang werden sie sich kennengelernt haben, Jesus und diese beiden Johannesjünger, von denen einer Andreas hieß, der seinem Bruder Simon so begeistert von dieser Begegnung erzählt, dass auch er diesen Mann aus Nazareth kennenlernen möchte – ohne zu zögern, und der in diesem seinem Kennenlernen von Jesus selbst schon mit einem Spitznamen versehen wird, wie es Freunde tun. Zwischen 16 Uhr und kurz nach dem Sonnenuntergang ist eine Gemeinschaft begründet worden, die den Tod überdauern und das Leben verändern soll. Zwischen 16 Uhr und kurz nach dem Sonnenuntergang haben sie gesprochen, gehört und sich bewegen lassen.
Zwischen 16 Uhr und kurz nach dem Sonnenuntergang – das ist nicht viel Zeit, um zu erkennen, das jemand der Messias ist. Marketingexperten träumen von so etwas; sie träumen davon diesen Claim zu finden, der die Menschen unmittelbar erreicht, in dem alles gesagt wird, in dem der Funke überspringt, in der eine Beziehung begründet wird, auf die man bauen kann, in der das Leben auf den Punkt kommt.
Der Text erzählt nicht, was dort erzählt wurde. Nur das Ergebnis wird festgehalten. Die Methode aber ist erkennbar: Man geht ein Stück Weg gemeinsam, ist zu Gast und bleibt. Man wird erzählt haben und gefragt und gehört; und hinterfragt und eingewandt; und wieder gehört und schließlich verstanden haben. Lange wird es nicht gedauert haben, diese Gespräch zwischen Jesus und Andreas und seinem Begleiter. Sie müssen ja noch zu Petrus gegangen und Petrus zu Jesus gebracht haben – kurz vor Sonnenuntergang. Wie lange werden sie geredet haben? Eine Stunde vielleicht, vielleicht etwas mehr. In einer Stunde soll man erkennen, dass der, der da am Jordan auftauchte, der Messias ist?
Manager, die auf der Karriereleiter emporgeklommen sind, kommen schon ins Schleudern, wenn sie in einem kurzen Statement darlegen sollen, warum gerade das Produkt ihrer Firma für den Kunden interessant ist. Da wird gestottert und mit vielen Ähm’s und Hm’s die eigene sprachliche Leere überbrückt, die nicht entstanden wäre, wenn man sich in jungen Jahren mehr um die Ästhetik der Sprache als um die utilitaristische Planung der eigenen Zukunft gekümmert hätte. Solche Leute mögen am Ziel ihrer Wünsche angelangt sein – was mag da noch kommen?; überzeugen aber können sie nicht.
Versuchen Sie es einmal selbst, liebe Leserinnen und Leser. Stellen Sie sich vor, Sie würden in einem Aufzug vom Erdgeschoss bis zum – sagen wir einmal: 20. Stockwerk fahren. Sie haben ungefähr zwei Minuten Zeit, ihren Mitfahrenden das zu erzählen, was Ihnen das Wichtigste im Leben ist. Zwei Minuten, um die anderen zu begeistern, so, dass sie selbst als erstes in ihren Büros den Mitarbeitern davon auf eine Weise erzählen, dass bei Ihnen das Telefon nicht mehr still steht. Ihnen fehlen die Worte? – dann wird es Zeit, Muße zu suchen. Denn die Worte wollen von selbst kommen und zu Gast sein. Worte kann man nicht in Zeitfenster zwingen. Worte gehorchen nicht, sie wollen gehört werden und verstanden, so dass sie vom Ohr in das Gehirn und von dort in Herz und Hand gelangen. Es ist Zeit, das der Mensch wieder endlich wird, was er ist: ein Mensch, dem ein gerüttelt Maß an Zeit geschenkt ist. Oh Mensch, vergeude deine Zeit nicht mit Nutzlosem. Bedenke, was von dir bleiben soll: ein Mietvertrag oder doch das Gedicht, das du so gerne hattest, der letzte Gehaltszettel oder die Geschichten, die man sich von dir auch dann noch erzählen wird, wenn du längst zu Staub geworden bist. Genieße die Zeit, erlebe die Zeit, lebe die Zeit und feiere sie – vielleicht heute um 16 Uhr oder kurz danach, wenn Feierabend ist.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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